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36. Jahrgang InternetAusgabe 2002
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Stefan George

 

1.

Gespräch und Gedicht

 

 MENSCHEN hohen Alters, die in sich ruhen und sich nur noch selten und ungern zu der Welt und ihren Bewohnern wenden, haben bisweilen zum Gespräch die besondere Neigung des Todgeweihten, der von seinem einmaligen Wissen noch mitzuteilen bereit ist, jedoch nicht mehr den unentziehbaren Trieb oder nicht mehr die einstige Kraft seiner werkhaften Gestaltung besitzt. So mag Goethes Beziehung zu Eckermann zutiefst zu deuten sein, so verkehren die Greise in Platons Nomoi miteinander, – das einzelne Gespräch erhält hierdurch ein bleibendes Gewicht, das es in die Nähe der geformteren, geschlossenen Werke hebt. Von solcher Art sind Georges Gespräche in seinen Mannesjahren nicht gewesen, – sie waren ein Bestandteil seines Lebens und seines erzieherischen, nicht seines dichterichen Werks. Nur dadurch daß dieses Leben selbst in strengen Formen, wie nach einer selbstgesetzten Regel, verlief und daß zumeist Begegnungen und Besprechungen – außer mit den allernächsten Freunden – nicht zufällig und planlos zustande kamen, sondern nach Ort und Zeit und sogar Inhalt auf Abrede oder Plan beruhten, – nur dadurch konnten zuweilen Georges Worte endgültiger und abschließender erscheinen, als er selbst sie aufgefaßt wissen wollte. Diese Tatsache haben nicht nur ferner Stehende, sondern auch manche unter den Jüngern vielfach verkannt, – nicht zur Freude des Meisters. Er, konnte, wenn man im Gespräch auf eine seiner eignen, früheren Äußerungen Bezug nahm, sehr ärgerlich losfahren: „Aber das war doch gestern!“

 Dies war und ist nicht zu verstehen, wenn man den Reichtum des lebendigen Wesens über einer einzelnen dichterichen Form, die Kraft des liebenden Herzens über einem einzelnen verdammenden Wort vergißt, – und auch dann nicht, wenn man sich Georges Dichtung und darum auch Georges Gestalt als Entwicklung vom Lyrischen zum Prophetischen, vom Dichter zum Propheten „erklärt“. Denn an diesem beliebten Schema ist nur so viel richtig, daß seit dem „Siebenten Ring“ immer öfter und immer furchtbarer das Dröhnen der Posaune erschallt, – aber gewinnen nicht zu gleicher Zeit Harfe und Leier einen nie vorher gekannten Klang und Schmelz? Nicht anders entfaltet sich Georges Leben, sein Wort und sein Wink. Wir haben ihn erst in jener Zeit gekannt, als er in seinem hohen Rang bereits sichtbar geworden und genannt war. Aber dieser unser Meister – das zeigen alle Freundesberichte – war nicht etwa strenger, nicht abweisender, nicht verschlossener als ehedem, da er seines Weges selbst schon gewiß, doch in seinem höheren Wesen, seiner bildenden und verwandelnden Kraft nicht begriffen, nicht mit dem rechten Namen gerufen war. Sondern mit der Erkennung und der Ehrfurcht der Jünger war die freie Güte und die schenkende Liebe des Meisters gewachsen, – die ‚Menschlichkeit‘ versank nicht, sondern fand im Meister-Sein die höchste Form.

 Zum menschlichen unid zum prophetischen Wesen aber gehört die Unmittelbarkeit der Äußerung und ihre Gegenwärtigkeit. Dieser entscheidende Verhalt gerät durch späte Wirkung und Widerspiegelung, zumal in geschichtsbewußten Zeiten, leicht in Vergessenheit. Wohl können oft erst die Späteren den geheimen Zukunftssinn erfassen, der den Mitlebenden entging, und selbst dies ist nicht selten geschehen, daß wer als Mund des Gottes begnadet war, nicht selbst seinen Spruch zu deuten wußte. Aber noch kein Prophetenwort hat für Aeonen Gültigkeit bewahrt, das nicht in der Einmaligkeit seiner Stunde volle Kraft und Wirklichkeit besaß, und noch kein Meisterwort hat unvergängliche Frische behalten, das sich selbst als Dogma gesetzt hätte. „Das Dogma machen die Jünger.“ ...

 Es gehört vielleicht zu den Notwendigkeiten jeder Sende, daß unter den Jüngern sich Eiferer finden, deren verzehrende Hingabe das Einmalig-Lebendige zu Gunsten des Bleibend-Dogmatischen auslöscht – und ein Recht, sie zu schelten, hat keiner außer dem Meister selbst. Indessen solange die menschliche Erinnerung währt und solange noch Zeugen des Lebens wach sind, ist es dem Liebenden möglich und darum heilige Pflicht, die dogmatische Erstarrung hintanzuhalten durch den hinweisenden Blick auf den Urgrund, dem jedes einzelne Wort entstammt, und auf die Gestalt, die jeder einzelnen Gebärde den Sinn verleiht. So wollen auch die Worte und Gesten des Meisters, die früher angeführt sind, nicht ein Zufälliges verfestigen und versteinern, sondern das Ewige sichtbar werden lassen, das sich in ihm bis in die scheinbaren Zufälligkeiten hinein erregend und erschütternd und bezwingend prägte. Kein einziges Wort ist verzeichnet, das nicht genau so gesagt und im unmittelbaren Anschluß an das Gespräch schriftlich festgehalten ist. Und dennoch kein einziges Wort ist verzeichnet, das für sich allein als dauernder Quell einer Georgeschen Lehre gefaßt werden darf. Denn was George zu lehren in die Welt gekommen war, das hat er vorgelebt und hat er in seinem von den Lebenden nicht auszuschöpfenden Werk gestaltet. Die Begebenheiten und Gespräche, von denen berichtet wurde, sind nur ein Weg zu Mensch und Werk, – nicht mehr.

 Mit dieser Bescheidung wollen auch die Winke und Lehren gelesen und gewertet sein, in denen wir nun weniger die lebendige Gebärde als den gedanklichen Inhalt einiger Gespräche zu fassen suchen. Das Kostbarste geht hierbei unvermeidlich verloren; denn wir entsinnen uns keines Gesprächs, in dem nicht noch der erhabenste Gedanke seinen besonderen Fug, seine krystallene Härte oder seine beschwingte Anmut durch die geheime oder offene Wendung zum fragenden oder hörenden Jünger erhielt. Wenn man von Mallarmé erzählt, daß er im engsten Freundeskreise und in der größeren Runde der Dienstage der rue de Rome keinen Widerspruch duldete, so hat der priesterliche Franzose hiermit wohl nicht nur seine beweglichen Hörer zum ehrfürchtigen Schweigen erziehen wollen, sondern die Empfindlichkeit seiner Seele und die Mühsamkeit seines Gleichgewichts ertrugen keine Ablenkung und Störung. George dagegen hatte mehr die Art des Herrschers als die Art des Priesters, – des Herrschers, der sich an den eignen Wünschen und Gedanken, Kräften und Zielen seiner Getreuen freut und stärkt, sofern sie nur den gemeinsamen Boden und den gemeinsamen Baum nicht verlassen, die gemeinsame Haltung und die gemeinsame Sitte nicht verletzen. Es war eine Herrschaft über Freie, die, ihm frei zu eigen, in Spiel und Kampf ihrer besten Kräfte sich als seine rechten Jünger erwiesen, – in Spiel und Kampf, wozu der Meister daselbst oft das Stichwort gab, oft den Widerpart hielt. Ein Sokratisches Gefallen an der Eristik sprach in solchen Stunden aus Georges Zügen, – und ähnlich wie wir Alle, so mögen sich auch die attischen Jünglinge um Sokrates nach einem Zwie- und zumal nach einem Mehrgespräch vielfach besinnlich und beschämt gefragt haben: was eigentlich den Meister vermöge, die jugendlichen und unreifen Ansichten mit gütigem Ernst oder nachsichtigem Lächeln anzuhören, ja wichtig zu nehmen ...

 Von dem menschlichen Wirken und dem menschlichen Widerhall des Sokrates wüßten wir nichts, wenn nicht Platon, der Dichter, die Gespräche seines weisen Führers im Kunstwerk seiner Dialoge neu gestaltet hätte. Bei George dagegen ist der lebendige Austausch mit Jüngern und Freunden nicht nur in der Spiegelung ihrer Gedichte zu fassen, sondern sein dichtes Zeugnis ist Georges eigenes Werk. Insonderheit „Der Stern des Bundes“ vermag für alle Zeiten die Kunde zu vermitteln vom geistigen Leben des Meisters mit seinen Jüngern, – von seiner steten Bereitschaft, auf Fragen zu antworten, Einwände zu bejahen oder zu entkräften, Hoffnungen zu bestätigen oder zu zerstören, – von seiner erhabenen Sicherheit, die unheilbar Kranken zu merzen, die schwer Genesenden aufzurichten, die Kühnen und Heilen anzufeuern, und zu geleiten, – von dem ununterbrochenen Strömen der gegenseitigen Liebe, welche die Jünger zu Schönen-und-Edlen wandelt und ihr Wort und ihren Vers auf die Ebene des Meisters hebt und welche dem Meister die Söhne seiner Kür und Zucht als Boten und Zeugen, als bewirkte Wirker und dienende Helfer zuwachsen läßt, auf daß die schmerzhafte Trauer der unnennbaren Einsamkeit von ihm weiche und inmitten Grauen und Vernichtung sein Staat blühe und sein Chorlied steige.

 Dieser Raum und diese Luft sind es, in der alle bedeutenden Gespräche ihren Sinn und ihre Richtung erhielten. Wir versuchen diese geistig entscheidende Tatsache dadurch lebendig und verständlich zu halten, daß wir die einzelnen „Winke und Lehren“ gleichsam als Erläuterung zu einzelnen Versen behandeln. Dies ist nicht nur eine sinnvolle Form der Darstellung, sondern tatsächlich ist manche Weisung gegeben, manches Gespräch weitergeführt, indem um Erläuterung eines Verses oder um Bestätigung einer Deutung gebeten ward. Und vor allem ist zu beachten, – und dies gilt nicht nur für Alles, was wir zu berichten haben, sondern nicht minder für Alles, was schon von Andern mitgeteilt wurde oder noch bekannt werden mag: es ist der Blick zu schärfen für den Unterschied zwischen gelegentlichen Äußerungen und bleibenden Anschauungen. Jene können das Bild des Menschen verdeutlichen, so wie dies früher von uns selbst erstrebt und gezeigt wurde. Aber nur diese, – nur was aus dem festen Stand des Glaubens und Wissens stammt, – nur Winke und Lehren, die dem Werk entsprechen, da sie dem gleichen Urgrund entspringen, – nur diese allein sind über den Augenblick hinaus bedeutsam und gültig und bei ihnen allein besteht die Gewähr der richtigen Überlieferung: Sie führen zum Werk hin und erhalten von ihm ihre Bestätigung.