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36. Jahrgang InternetAusgabe 2002
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Stefan George

 

7.

Kein freund war nahe mehr – sie alle gingen
Nur Er der niemals wankte blieb und wachte.

 

 Wer manche Jahre verehrend und liebend in Georges Nähe verbracht, wird im Zusammensein mit gleichgestimmten Freunden nicht müde werden der teuren Erinnerungen und des beschwörenden Erzählers. Solch stille Feier mag dem Einzelnen unbekannte Züge und Begebnisse offenbaren, – und dennoch wahrt sie jedes Geheimnis, da noch der Schatten des Meisters genug Allgegenwart besitzt, um dem andeutenden Wort und dem hinweisenden Bild alle bedurfte Kraft des Blitzes und des Schleiers, der Hülle und des Risses zu sichern. Da Anderes vom geschriebenen und vom gedruckten Wort gilt, müssen alle „Winke und Lehren“, die Georges Willen und Sichten wahrhaft achten, die sachliche Mitteilung dort grenzen und enden, wo sie nicht mehr den Menschen bestimmt und formt, erleuchtet und steigert, genau so wie umgekehrt alles persönliche Tun und Widerfahrnis erst dort bedeutend wird und mitteilenswert, wo sich ein Allgemeines in ihm spiegelt. Denn George, der vollkommen Weise, war nicht wissenschaftlicher Verfechter von bestimmten Lehren, und George, der Künstler des hohen Lebens, war nicht moderner Lehrmeister von primitiven Lebensregeln, sondern George war, was man auch von ihm sonst noch rühme und preise, – George war in jedem Betracht Dichter. George hat das Wesen des Dichters in solcher Reinheit neu verleibt, daß grade hierdurch nicht nur für die niedergehende Zeit, in der er lebte, sondern noch für die Nächsten der Jünger bisweilen das Verständnis, die Gefolgschaft und der Dienst sich verdunkelte und erschwerte.

 Es ist früher jener Ausspruch Georges berichtet worden, der das Los des Steinklopfers lobt vor dem des Dichters. Es war ein Augenblick der Krankheit und des Mißmuts, in dem jene Worte fielen. Aber sind sie nicht doch gewichtig genug, um mit dem Meister nachzusinnen über den Beruf des Dichters und über sein Schicksal in dieser, vielleicht in jeder Zeit?

 Goethe erklärt es als „Hauptaufgabe der Biographie“, „den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt”. Man könnte diese Worte aus Dichtung und Wahrheit als Motto über große Teile von Gundolfs Goethe-Buch setzen und hierdurch zum andern Male die Goethe-Nähe dieser einzigartigen Biographie verdeutlichen. Aber wenn schon die Frage nach der George-Nähe dieses Goethe-Bildes erlaubt war, – viel dringlicher und viel ernsthafter ist die weitere Frage, ab überhaupt diese von Goethe gewiesene Richtung einen sicheren Weg zum Dichter und zur Dichtung darstellt.

 Niemand wird auf diese Frage mit einem einfachen Nein zu antworten wagen, da es jene Auffassung Goethes ist, der wir Dichtung und Wahrheit danken, – ein Werk, dessen smaragdener Glanz vielleicht Leute noch heller strahlt als zur Zeit der Entstehung, da neben dem jungen, in Spiel und Unterricht, in Einsamkeit und Geselligkeit, in Freundschaft und Liebe sich bildenden Dichter heute auch sein Jahrhundert und seine Umwelt unser Augenmerk fesseln und unsere Neigung gewinnen, – Alt-Frankfurt, Alt-Wetzlar, Alt-Straßburg, lebendig und schön nur noch durch Goethes Bild... (Auch diese Worte sind zu Beginn des zweiten Weltkriegs geschrieben. Wer heut über zerbombte Städte klagt, sei eingedenk, daß leere Fassaden, aus denen lang der Geist gewichen war, in Trümmer fielen.)

 Indessen was Goethe geziemt, ihn auszeichnet und ehrt, braucht darum nicht allgemeine Geltung zu besitzen. Es mag allgemein zutreffen, wie wieder Goethe sagt: „ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigne Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz andrer geworden sein“. Aber dennoch tritt die besondere Kraft gerade des schöpferischen Menschen in der Haltung zu Tage, mit der er seinem Jahrhundert gegenüber tritt, – in dem Maß, mit dem er seinen guten und bösen Geistern Einlaß gibt und wehrt, – in der Härte, mit der er sich eher brechen als biegen läßt, und es kann geschehen, daß die andere Bildung und die andere Außenwirkung zugleich ein zeitliches Scheitern und ein ewiges Leben verursachen und bestimmen...

 Es darf jedoch in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, daß Goethes Worte geschrieben sind in einer Zeit, in welcher die historische Betrachtung eben ihren ersten Ruhm gewann, – geschrieben zudem aus der weisen Überschau des Alters und mit dem milden Willen, eine bildungseifrige Jugend durch dieses klassische Vorbild zu ermutigen. Die Wahrheit seines jungen Lebens spricht kühner, selbstbewußter und unbedingter aus der großen Konfession seiner Jugend-Dichtungen als aus der dichterischen Altersbiographie, und wer den genialischen Jüngling bei stolzem Eislauf am Main oder bei feurigem Ritt von Straßburg nach Sesenheim oder bei wilder Jagd in den Wäldern von Weimar gewahrte, der mag Züge der einsamen Qual und der dämonischen Unrast bemerkt haben, die der Olympier verschwieg. Und hat nicht Goethe selbst über den hohen Dichter die unvergänglichen Worte geschrieben: „Eingeboren auf dem Grund seines Herzens wächst die schöne Blume der Weisheit hervor, und wenn die Andern wachend träumen, so lebt er den Traum des Lebens als ein Wachender, und das Seltenste, was geschieht, ist ihnen zugleich Vergangenheit und Zukunft. Und so ist der Dichter zugleich Lehrer, Wahrsager, Freund der Götter und der Menschen“. Darum heißt es nicht George über Goethe stellen noch gar Goethe an George messen – das eine wie das andre wäre Georges stolzer und bescheidener Ehrfurcht als sinnloser Aberwitz erschienen, – sondern es heißt nur, einer wichtigen Tatsache Ausdruck und Recht geben, wenn festgehalten wird: die Natur, das Wesen, die Form des Dichters ist in George in solch reiner Unbedingtheit erschienen, dargestellt und zu Ende gelebt wie nicht mehr zuvor seit Dante und Shakespeare.

 Es ist möglich, daß diese Tatsache von Gundolf und von den jungen Freunden, die er dem Meister zuführte, mehr beachtet und mehr durchdacht worden ist als etwa vom Freundeskreis in München und Berlin, und es ist wahrscheinlich, daß George selbst nirgendorts so scharf den Bereich der Dichtung ausdrücklich wahren mußte als in Heidelberg, wo Gundolfs Tätigkeit die Grenzverwischung zu den Gebieten der bloßen Literatur begünstigte. Die Kosmiker von München und Berlin waren ihrer Art und ihrer Berufung viel zu sicher, um einen Anlaß oder gar eine Notwendigkeit der Rechtfertigung nach innen oder außen zu verspüren, – und gerade in diesem Punkt gehörte George selbst wahrhaft zu ihrer Runde. Aber mit der Sicherheit des überlegenen Staatsmannes besaß George ein untrügliches Gefühl dafür, daß manches ihm Versagte und Verbotene doch an der Zeit und also seinen jungen Freunden erlaubt, ja vielleicht aufgegeben war. Und wenn er für sich selbst ablehnen mußte, anders als durch Darstellung, anders als in Werk und Leben sich zu erklären, so war er doch viel zu stark ein herrscherlicher Mensch der Tat, um zu verkennen: daß die „Erklärung“ der Freunde ein Mittel der aufschließenden Wirkung und einen Weg der erziehenden Macht bilden und bahnen könne. So kommt es, daß das Thema „Stefan George in unsrer Zeit“ nicht nur aus jenen meisterlichen Unmutsworten aufspringt, nicht nur den Titel eines bedeutenden Vortrags (Gehalten in Göttingen am 15. Dezember 1913.) Gundolfs bildet, sondern daß es sich als Frage, als Rätsel, als Wunder gestellt hat vom ersten Tag des Sichtbar-Werdens Georges an bis hin zu seinem letzten Atemzug...

 „Niemals war wie heute eine Herrschaft der massen, niemals daher die tat des einzelnen so fruchtlos“, heißt es in den Vorsprüchen der siebenten Folge, und jenseits aller „welten-, staats- und gesellschafts-wälzungen“ wird darum der Künstler hier angerufen als „bewahrer des ewigen feuers.” Die Frage nach dem Verhältnis des Dichters zu seiner Zeit scheint also dahin beantwortet, daß er oberhalb oder außerhalb stehe. Doch trifft diese Deutung nicht ganz die Lehre Georges. Als Wolfgang im Sommer 1914,– im Anschluß an einschlägige, soziologische Bemerkungen Alfred Webers – den Meister fragte, ob der Dichter nicht auch Ausdruck und Stimme meiner Zeit sein könne, lautete die Erwiderung. „Gewiß! Ihr braucht nur auf Pindar zu sehen. Aber Eure Wissenschaft trübt Euch den Blick für den wirklichen Zusammenhang. Ihr meinst, diese Verbindung sagt etwas Wesentliches über den Dichter, – sie sagt aber nur etwa über Volk und Zeit“. – Aus dem Tyrtaios-Gedicht des Sterns leuchtet die gleiche Kunde.

 Der Dichter ist „bewahrer des ewigen feuers“, ist „dröhnen der heiligen stimme”, – der Dichter ist Wesen eigner Art und eignen Rangs, nicht abzuleiten und nicht zu erklären, ist heiliges Gefäß der schöpferischen Urkraft, – dies war Georges Sendung und Georges Leben. Stamm und Volk können vom göttlichen Hauch so tief durchdrungen und bewegt sein, daß sie im Wort des Dichters den Rhythmus ihres Bluts, im Liede seines Chors den Taktschlag ihres Reigens vernehmen, – dies meinte Georges Hinweis auf Pindar und – bei andrem Anlaß – auf Horaz. Aber solche Übereinstimmung ist seltne Gnade, – verhört zu werden ist unentrinnbares Schicksal, – Stamm, Staat und Volk zu schaffen ist schwere Aufgabe, – dieses Werks Vollendung nur im Trauen zu sehen ist herbe Tragik des Dichters, – dies war Georges Wissen – war es auch seine Tragik?

 Es bärge und offenbarte tiefen Sinn, wenn Einer käme, der da anhöbe, über „Das Leben des Dichters“ zu sprechen und der als einzige Lösung hinzuweisen wüßte auf Georges Werk, in dem das reine Leben einer Dichterseele, ihre Erkenntnisse, und ihre Erfahrungen, ihr stolzes Glück und ihr bitteres Leid, ihre Eroberungen und ihre Verluste, ihre Maaße und ihre Stufen reine Gestalt geworden sind. Und kein Zweifel: wenn dieser Schönheitssucher so von George spräche, so wäre es wirklich nicht nur dieser Eine, es wäre der vollkommene Dichter, dessen Bild er zeichnete. Und ebenso kein Zweifel: in diesem Bild des Dichters wäre mehr von Georges Wesen enthalten als in allen „biographischen Zügen“ nach Goethes Sinn, von denen auch unsere Erinnerung so manche bewahrt. Entstammt dann aber nicht die ganze Frage nach der Tragik einer zeitlichen Verhaftung der Jünger und der Betrachter und wird gegenstandslos vor des Dichters Lebensgesetz?

 Es ist das Vorspiel zum Teppich des Lebens, in dem wir Jüngeren eine Antwort fanden. Sie lautete anders, als Gundolf sie las, und erst recht anders, als Wolters sie gegeben hätte, vor dessen siegesgewisser Zuversicht bisweilen unsre sorgenvollen Fragen als gefährliche Nachtgedanken erschienen. Sie ließ den ganzen Bereich in offener Schwebe und kam vielleicht darum der eignen Sicht des Dichters nahe, der „ohne laß vorm schicksal“ wenig Klage kannte: Das Wort, die Empfindung Tragik, – so schien es uns, würde der Dichter als ein Hineinmischen menschlicher „Sentiments“ in einen kosmischen Ablauf ablehnen, doch den Vorgang als solchen nicht leugnen noch bedauern, sondern bekennen und bejahen.

 Im letzten Gedicht des Vorspiels wird in einem ergreifenden Bild der Tod des Dichters ahnungsschwer geschildert. Zum Triumph des großen Lebens hat er seine Lieder geschaffen, nun ruft er mit Würde die dumpfe Erinnerung an das Dunkel hervor. Das Gedenken vergangner Kämpfe, Siege und Ehren steigt nochmals auf, die heimatlichen Blumen nicken ihren letzten Gruß. Dann versinken die schönen Bilder. Einsam, ohne Freund und Gefährten, liegt der Scheidende auf seinem letzten Lager und die Schatten der Bedrängnis wehrt nur fest – und - hohen Stands der Engel.

 Kein liebender Jünger konnte solche Weissagung vernehmen, ohne daß ihn anklagend die Schreckensfrage überfiel: Wo bist denn du? Bist auch du „schwach und feig“? – Wer leichten Herzens sich zu trösten wußte, mochte sich die Verkündung als Mahnruf an die Jünger deuten, nicht vom Angesicht ihres Meisters zu weichen, und wer als Historiker nur die äußeren Tatsachen des Lebens wahrnimmt, mag heute sogar finden, daß diese Deutung durch die Ereignisse bestätigt wurde. Aber es gibt ein Geschehen und eine Geschichte der Seele, bedeutsamer und wichtiger als alle äußeren Vorgänge, – hielt nicht doch nur der Engel Wacht?

 Und noch ein andres Geschick sah der Dichter unausweichlich seinem Leben, dem Gedächtnis seines Lebens, vorbestimmt: Die Menschen späterer Zeit werden vergebens die Schluchten durchspähen und über die Hügel wandern, die sein Fuß betrat. Keine Kraft wird ihnen von dort zuwachsen und kein Bild des Dichters wird ihnen an solchen Stätten verpflichtend und gegenwärtig in ihren Tag hinein leuchten. Wie von den attischen Dichtern, wie von Dante und Shakespeare wird kaum eine Kunde seines Lebens bleiben und keine Form der Lehre außer dem gestalteten Werk.

 Und also wäre gar von doppelter Tragik zu sprechen? Zwiefach nein. Wenn in Georges Sinn gesagt wurde, daß jenes Wort ein menschliches Sentiment in einen kosmischen Ablauf mische, so läßt sich nun hinzufügen: Der Dichter selbst verweist auf die attischen Gottesdiener, auf den britischen Zauberer und den Florentiner als auf „trost und beispiel“, er hat nicht – christlich – als Tragik beklagt, was er – antik – als Verhängnis, als Fatum, als Moira erkannte und darum bejahte. Wo ist noch Raum der Tragik, wenn ohne Irrtum und ohne Schuld Wechsel und Wandel zum Wesen alles Irdischen gehören?

Mit wüsten wechseln gärten · Trost mit glut ·
Nacht kommt für helle – busse für das glück.

 Dennoch scheint ein Zwiespalt zu bleiben zwischen der Vision des einsamen Dichters im „Vorspiel” und der Wirklichkeit des Herrn der Runde, wie sie im „Stern des Bundes“ sich spiegelt. Nicht aus spätem Rückblick von Heute, sondern aus glücklichem Frohmut der strahlenden Vorkriegsmonate von 1914 kam erstmals die Frage, ob der Dichter, der auf seinem Fußbreit festen Grundes seinen Staat errichtet hatte, nun siegreich in die Zeit zu wirken beginne, und es war, wie sich früher zeigte, einzig der Meister selbst, der allein und unverrückt vor jedem Überschwang und jeder Grenzverwischung warnte. Aber war es wirklich nur Schwäche und Blindheit, daß manche der Jünger hofften und glaubten: große Teile der Widerwelt seien bezwungen, und es nahe die Stunde, um die Grenzsteine des Dichter-Staates tief in den ehemals feindlichen Bereich hinein zu versetzen?

 Tatsächlich ließen sich gute Gründe für diesen Trugschluß geltend machen. Bedeutete nicht jedes neue Werk des Dichters die Erreichung einer neuen Stufe, die Eroberung eines neuen Bezirkes? Und stellte nicht das Maximin-Erlebnis einen so tiefen Einschnitt dar, daß sich „nel mezzo del cammin“ des Lebens und des Dichtens Sinn und Tiefe wandelte? Und vor Allem: wo gab es für die tatendurstigen Jünger Raum und Zeit der Bewährung, wenn sie nicht versuchen durften und sollten, mit des Dichters neuem Geist die Segel des festgefahrenen Weltenschiffes zu schwellen?

 Obwohl für die erste Beweiskette die Autorität Friedrich Gundolfs ins Feld geführt werden kann, so entspricht sie in ihrer historischen Betrachtung von aufeinander folgenden Stufen nicht eigentlich der besonderen Lebens- und Erlebnisart Georges. Wenn der einstige Lieblingsjünger das Wirken seines Meisters als Gewinnung der Natur-, der Geist-, der Mächte-Stufe erläutert, so ist gewiß hieraus zu lernen, daß diese Deutung ein Weg ist, um einen seelischen Vorgang begrifflich faßbar zu machen. Aber wenn George sein siebentes Werk „Der siebente Ring“ nannte, so hat er doch wohl ausdrücklich gezeigt, daß er sein Leben und Werk nicht als Nacheinander im Sinn des sehr modernen, sehr zeitgebundenen Entwicklungsgedankens, sondern als In-, Um- und Auseinander im Sinn eines alten und zeitlosen, mythischen Leibensgefühls lebte und formte und verstand. Kein alter Jahresring geht durch einen neuen verloren, – kein neuer enthält einen Saft, der nicht auch im alten sich fände, – im Einklang sind alle Ringe vom ersten zum letzten, vom Schößling zur Krone, vom Keim zur Welke.

 So gehört denn auch die Vision des einsamen Todes durchaus nicht etwa einer Früh-Stufe an, die von Raum und Segen der Gemeinschaft noch nichts ahnte. Im Gegenteil, – dieses Bewußtsein macht die Einsamkeit so fühlbar und so hart: daß manchmal edles Feuer aus den Vielen bricht, denen der Dichter Gast von fernem Strande bleibt, und daß doch kein brüderliches Erfassen ihrer Hände die starke Schmerzgemeinschaft in eine währende Gemeinschaft des schönen Lebens wandeln kann. Und diese Trauer läßt den Engel vor Mitleid zittern: daß keine Verehrung, keine Liebe der Jünger das Verhängnis der Einsamkeit zu wenden vermag, daß in die reine, heilige Jugend „viel von seinem odem“ eingeht und dennoch kein Freund mehr nah ist in der Sterbestunde, einzig der Engel dann den Schmerz des Scheidens lindert.

 So wäre aller menschen-suchende, aller menschen-bildende Eros im voraus zum Scheitern verdammt, so wäre alles Wirken des Dichters auf die Menschen seiner Zeit vorgebliches Mühen, so wäre das Los des Dichters in dieser Zeit vergleichbar dem Schicksal des Predigers in der Wüste oder dem gemiedenen des Sehers an der Furt? Je eindeutiger die Frage, desto mehrdeutiger muß die Antwort sein. Denn für den Dichter gilt wie für den Propheten und für den Heros, daß er als Gefäß und Träger göttlicher Kräfte so schlicht und so erhaben, so hell und so dunkel spricht und handelt und wirkt wie der Logos selbst, und wer eine Deutung wagt, bleibe sich darum bewußt, daß oft einfach klingt, was Geheimstes birgt, und oft einfarbig erscheint, was aus vielen Farben gemischt ist...

 Wieder, zum letzten Mal, sei an das höchste Sinnbild erinnert. Nur späte Ausleger wissen zu sagen, welche logischen Überlegungen Jesus zum Einzug in Jerusalem bestimmten, nur sie kennen für jedes Wort und jede Handlung eine einzelne Ursache – die Jünger ahnten und achteten die Fülle des Lebens und der Geheimnisse...

 Oder gedenke man zweier Beispiele aus den Bezirken der hohen Dichtung: Vergils vierte Ekloge verkündet die nahe Geburt eines Heiland-Herrschers der Welt. Anderthalb Jahrtausende haben die Weissagung auf Christus gedeutet. Wäre diese Auslegung entkräftet, wenn plötzlich ein Brief des Vergil gefunden würde, des Inhalts: er habe an einen Sohn des Antonius oder des Augustus gedacht? Wäre nicht das Rätselhafte und Wunderbare nur nach einer tieferen Schicht verschoben? und wer wüßte zu sagen, welche göttliche Stimme den Dichter seine Prophezeiung so strenge verschlüsseln hieß, daß die – vielleicht private – Auslegung des Dichters nicht zu Tage trat und die – vielleicht gottgewollte – christliche Deutung während des christlichen Aeons allein Bestand hatte? Wie man auch antworte, – die bedeutende Deutung gehört zum Wesen des Gedichts, dessen volle Tiefen und dessen reiche Schichten erst aus der Fülle sinnvoller Deutungen erhellen.

 Entsprechendes gilt von verwandten Prophezeiungen Dantes. Viel gelehrte Gründe sind zusammen getragen, um den Nachweis zu führen, daß es der deutsche Kaiser Heinrich VII. gewesen ist, in dem allein der Florentiner den einigenden Fürsten Italiens erwartete und grüßte. Aber alle Gelehrsamkeit hat die Tatsache nicht aufheben können, daß an der entscheidenden Stelle der Commedia kein Namen genannt ist und daß alle Angaben von Ort und Zeit im echten Orakel-Dunkel bleiben. Und so hat bis zum heutigen Tag die Weissagung durch manchen vergänglichen Condottiere und Dux wechselnd ihrer Erfüllung nahe scheinen können und ist doch offen geblieben und wird offen bleiben, solange es noch einen Rest von Dantes Italien gibt und dieser sich einer hohen Zukunft würdig fühlt...

 Nicht anders steht es mit der Fülle der Verkündigungen, die sich in Georges ganzem Werk finden. Ihre überwiegende Zahl ist unerfüllt und offen, auch wenn die vertrautesten Jünger sich so sehr täuschen konnten, daß sie im ersten Weltkrieg den geweissagten Heiligen Krieg, im Nachkriegs-Wirrwarr die geweissagte Wüstenwanderung und in siegreichen Generalen geweissagte Täter zu fassen meinten. Es ist früher gezeigt, wie hart und schroff der Meister gegen solche Täuschungen einschritt. Aber es muß das viel Wichtigere verstanden werden, daß alle Irrtümer, alle Verkennungen, ja alle Verleugnungen genau so untrennbar zu jeder Sendung hinzugehören wie die wahrhafte Erkenntnis und der rechte Glauben. Nur in den engen Eiferern der späteren Geschlechter fließt das Blut so dünn, daß sie von den reichen Möglichkeiten des Lebens nichts mehr ahnen, und ist der Glaube so vertrocknet, daß freilich sie von keinem Irrweg mehr zur rechten Straße fänden...

 Es mag aber darum intra et extra muros so schwierig sein, den geschichtlichen und den mythischen Vorgang in seinem tatsächlichen Verlauf und in seiner sinnbildlichen Bedeutung zu fassen, weil die Frage „Der Dichter und seine Zeit“ in ihrem Kern hinleitet zu dem wohl noch lange nicht auszuschöpfenden Rätsel: „George und die Deutschen“. Gewiß ist von Boccacio bis auf diesen Tag auch die Frage „Dante und Italien“ nicht zur Ruhe gekommen. Aber nicht nur der Florentiner, auch sein Volk erscheint doch im klaren Licht des Südens charakterlich so fest geprägt, daß jede Verheißung und jeder Wehruf des Dichters ein klar umrissenes Menschenbild, eine eindeutig faßbare Schicht, einen unverkennbaren Stand anzeigt und ruft. Die Deutschen aber, denen Georges und der Seinen Liebe und Zorn, Fluch und Segen galt, – die Deutschen waren noch so bar jedes festen Zugs und jedes festen Ziels und ihr ungesichtig Wesen schien zum Guten und zum Bösen noch so sehr jede Möglichkeit zu bergen, daß mit den Jüngern auch der Meister selbst trotz allen sicheren Wissens um all ihre Engen und Grenzen sich nach jeder Enttäuschung zu neuer Hoffnung rang und jede Verwerfung durch neue Erwählung überdeckte und daß doch das Eine besteht und gilt wie das Andere, Verdammnis wie Kür, Jubel wie Wehruf, Bannfluch wie Segen.

 Die Kluft, die zu überbrücken, und die Aufgabe der Erziehung, die zu leisten war, hatte solch gewaltiges, solch abgründiges Ausmaß, daß heute schon der Versuch der Bewältigung als kaum mehr begreifliche Kühnheit erscheinen mag. Zunächst bestand ja die früher in ihrer ganzen Wucht geschilderte Kampfstellung gegen das Preußentum als das kulturwidrige System schlechthin, – es war nicht leicht, den ausländischen Freunden – aber auch nur den Jüngern allen – einzuhämmern, daß diese Verfemung grade um einer höheren Deutschheit willen notwendig war. Sodann lief jede bewußte Pflege eines deutschen Menschentums Gefahr, vom sogenannten „Geist“ der „Jetztzeit“ mißbraucht oder zerschwatzt zu werden. Und schließlich stand unheildrohend über allem Tun und Sinnen das ewige deutsche Schicksal und die ewige Not.

 Im Jahre 1904, als noch die Wendung des Dichters zu seinem Bund und seinem Staat nach außen weniger sichtbar war, hat George im „Lob unsrer Zeit” (Blätter für die Kunst. 7. Folge.) die Mahnung ausgesprochen: über dem Frevel dieser Zeit, „jede Größe herabzureden und nur für die erhaltung des mittelmaasses zu sorgen”, nicht den ungeheuren Vorteil zu vergessen, daß der Einzelne nie zuvor in der Geschichte gekannte Freiheiten und Bewegungs-Erleichterungen genießen könne und bei verhältnismässig geringen anstrengungen sein leben führen in einer fast unumschränkten oberherrlichkeit.“ Vor und nach dem ersten Weltkrieg wurde hiervon nichts zurück genommen; aber George betonte jetzt stärker als den Vorteil der Freiheit den damit eng zusammen hängenden Nachteil der Wirkungslosigkeit. Es war Max Webers abschätzige und verkennende Bemerkung über die Rentner-Existenz des George-Kreises, die den Dichter zur Bemerkung veranlaßte: „Diese Gelehrten sind noch schlimmer als die Plebs. Spricht man mit ihnen, tätscheln sie einen freundlich als ihresgleichen. Zieht man sich zurück, haben sie ein objektives Schimpfwort bereit. Da lob ich mir die, die uns mit Leidenschaft schmähen. Da sieht man doch eine Wirkung.“ Wirkung aber wollte, Wirkung brauchte George wie jeder vom Eros zur Gemeinschaft getriebene Mensch, und selbst wenn sich dieser Eros im engen Kreis auswirkt, gestaltet und bescheidet, dann ist dieser Kreis die Welt und dieser Augeniblick die Ewigkeit. – Eros will Welt und Ewigkeit.

 Welt aber und Ewigkeit unter Deutschen? Unter den Griechen ist Sokrates gescheitert. Platon dagegen, der wie Dante und wie George in seltenem Zusammenklang den Traum des Dichters und des Weisen und des Täters vermählte, hat wohl den Neuen Staat der Griechen nicht mehr zu gründen vermocht, doch in seinem Werk und im Freundesbund der Akademie seinem Staatsbild die währende Form, den schöpferischen Raum und das geistige Leben erstritten. Unter den Juden ist Jesus gescheitert. Aber der Liebesbund der Jünger ist durch das Skandalon des Kreuzestodes als Glaubensgemeinde gefestigt worden und hat als Kirche Christi die Welt gewonnen. Und nun unter den Deutschen?

 Goethe hatte noch das Glück, daß zu seiner Zeit das Deutsche Reich nur durch „viele Pergamente, Papiere und Bücher beinah verschüttet“ war, doch gab es Friedrich II. von Preußen, an den sein jugendliches nationelles Verehrungs-Bedürfnis sich schließen konnte. Für George war nicht nur das reale Wilhelminische Reich bloße Karikatur und Zerrbild jedes echten Staates, sondern das Parvenutum und die Großmannssucht, die schlechten Manieren, und der leere Dünkel des Herrschers und der regierenden Schichten ließen den allgemeinen Niedergang des Geistes und die allgemeine Zersetzung des Adels in Deutschland besonders sichtbar, peinlich, unerträglich erscheinen. Und dennoch war deutsch nicht nur Georges Herkunft, sondern seine Dichtersprache und seine Sendung.

 Gewiß, Georges Deutschheit hatte mit dem deutschen Ungeist seiner Zeit so wenig zu tun wie Platons Griechentum mit dem attischen Ungeist der zeitgenössischen Demagogen, und so wie Platons Griechentum den Raum des Mittelmeers umfaßte, wie sich in seiner Akademie Athener und Sizilier und Jonier und Perser trafen, so war Georges Deutschheit europäisch in jedem Sinn. Auch wenn in den letzten Jahren die Jugend um George ausschließlich deutsch gewesen ist, – die Freundschaft des Kreises einte Deutsche mit Polen und Flamen, mit Holländern und Engländern und Franzosen und die Widmungen einzelner Gedichte und Werke bezeichnen wie Grenzsteine die Weite des Dichter-Reichs. Und dennoch: George mochte noch so sarkastischen Hohn über das sogenannte Deutsch der Zeitungsschreiber und Literaten ergießen, – vor 1914 nannte er ihr Geschreib gern „hottentottisch“, – und er mochte den Trennungsstrich zum offiziellen Deutschland aller politischen und literarischen Schattierungen noch so scharf ziehen,– gegenüber den Feinden, aber manchmal auch gegenüber den Freunden draußen trat plötzlich doch die Tatsache der Zugehörigkeit zu unserm vielgerühmten und vielgeschmähten Volk mit seiner stolzen Vergangenheit, seiner erbärmlichen Gegenwart und seiner damals noch und vielleicht dereinst wieder verheißungsvollen Zukunft bestimmt und bestimmend in Erscheinung.

 Es ist früher angedeutet worden, wie sehr die moralische Schwäche der Sieger von 1918 dazu beigetragen hat, daß in die Front des für die Heilige Ehre kämpfenden Dichterkreises sich Menschen und Schichten gesellen konnten, die, keiner dichterischen Erschütterung zugänglich, doch für das gleiche Ziel einzustehen meinten, – eine merkwürdige Täuschung, die den einsamen Meister einige Jahre lang als Vorläufer von kulturlosen Gruppen mißverstehen ließ.

 Aber vielleicht ist bezeichnender und bedeutungsvoller jenes uralte, neu aufbrechende Gefühl der Fremdheit gewesen, das die Völker Europens vor den unergründlichen und den himmelstürmenden Deutschen immer zurückschrecken und hinwiederum die besten Deutschen sich in Kyffhäuser, Geheimrätlichkeit oder Wahnsinn verschließen ließ und das diesmal zur höchsten Stufe der Einsamkeit im Schein der allgemeinen Anerkennung führte, – vielleicht ist es Wirkung und Schuld dieser Fremdheit gewesen, wenn der deutsche Rufer eines adligen Menschtums, der im Namen seines Gottes die weibischen Tänzer ums goldene Kalb brandmarkte und verdammte und eine neue Jugend zu klarem, gläubigem und mannhaftem Leben führte, nun in Welt und Widerwelt als gefährlichster Vertreter des gefährlichen Deutschtums beargwöhnt wurde.

 Als der Berichter im Frühjahr 1919 nach seinem Schweizer Aufenthalt solche Gedanken äußerte (25. April 1919), fragte George zuerst nach den Erfahrungen, die dieser Einsicht zu Grunde lägen. Die Schilderung, wie auf der Deutschen Gesandtschaft der „Georgianer“ als verdächtiger Revolutionär betrachtet, von den Schweizern der junge Referent ob seiner geistigen Unabhängigkeit als besonders gefährliche Spezies der Deutschen angesehen wurde, und die Erzählung mancher Gespräche über die Dichtung erweckten zuerst Georges Heiterkeit. Aber als der Besucher unentwegt mit seinem Bericht fortfuhr und die Torheit der hochmögenden und der gelehrten Herren recht drastisch zu zeichnen dachte und eine zustimmende Äußerung des Meisters erwartete, kam plötzlich die kurze Zwischenfrage: „Ist es bloß Torheit?“

 Es war die auszeichnende Wirkung solch kurzer Bemerkungen Georges, daß sie mit einem Schlag die Bahn des Gesprächs völlig veränderten. Schienen sich Erörterungen in einem dunklen Dickicht zu verwirren, dann konnte ein meisterliches Wort genügen, um eine lichte Klarheit zu verbreiten, in der alles Grübeln und Deuteln verstummte. Und wenn andrerseits, wie in diesem Fall, der Besucher zu einfach und einlinig dachte und handelte, dann konnte ein kurzer Satz ausreichen, um für Tage und Jahre schwerste Rätsel zu stellen. Georges Wort wirkte in solchen Augenblicken magisch wie ein Zauberspruch, und es geschah nicht selten, daß wir Jüngeren nach solchen Erschütterungen zusammen blieben oder uns zusammen fanden und daß uns Allen angesichts dieses vollkommenen Menschen die gleiche Frage auf den Lippen lag: „Ist er ein mensch?”

 Solche Rätsel barg auch das „bloß Torheit“? und birgt sie noch heute. Denn so gewiß Georges weltschaffende Liebe nur verächtlich auf das feige und feile Getriebe der stumpfen Herden aller Völker blickte,– wer könnte leugnen, daß in dem „unbekannten eingefühl” des Augusts 1914 und in den seltenen, späteren Augenblicken, in denen das Volk „von dem werhaft hohen schauer“ ergriffen wurde, ein Georgesches Fluidum sich den Deutschen mitteilte? – Seltsam und abgründig ist bisweilen die Verwirklichung des Geistes...

 Und so gewiß Georges maß- und zuchtvolle Haltung sich mit Widerwillen und Abscheu von dem lauten und überheblichen Gebaren seiner „Landsleute“ distanzierte, – wer könnte leugnen, daß in seinem schlichten und stillen Für-Sich-Stehen eine schärfere Verurteilung der gesamten, auch der nichtdeutschen, Fortschrittswelt enthaltenen war als in den frechen Tiraden hohler Machthaber? – „Parte da se stesso“ zu bilden, sich selbst genug zu sein, das empfanden schon Dantes Freunde als seinen schönen Stolz, Dantes Feinde als seinen beleidigenden Hochmut ...

 Und schließlich: so gewiß George als Herrscher seines Kreises vom Traum des Neuen Reichs in seinem Tag das hier und heute Mögliche gestaltet und gelebt hat, – wer wagt zu deuten, über welche Grenzen Ahnung und Hoffnung die Krönungszahl und den Gekrönten trug? – Hat nicht der Gründer der Akademie doch Dions Taten mit seinem Segenswunsch begleitet und krönt nicht Vergil den Florentiner, der Sänger der Vorzeit den Dichter an der Wende des christlichen Aeons, mit Mitra und mit Krone...?

 George unter den Deutschen seiner Zeit – die ganze Vielgesichtigkeit dieser erschütternden Lebensaufgabe und unlösbaren Schicksalsfrage wird im Spiegel der zeitlichen Wandlungen und der geschichtlichen Bilder deutlich. Man könnte in Georges Sinn antworten, daß keinen Dichter der Deutschen ein besseres Los erwarte als die Propheten der Juden, – aber die Vielgesichtigkeit weicht nicht. Und nicht als Gewißheit, nur als Möglichkeit hat der Seher die Zukunft so umschrieben, daß vielleicht abermals ein „Haß und Abscheu menschlichen geschlechtes“ die Erlösung bringt, – die Juden das erste, seine Deutschen vielleicht das zweite, gehaßte und verachtete Erlöser-Volk.

 In diesem dämmrigen Zwielicht muß alle Verheißung auf lange hinaus, vielleicht auf immer bleiben. Nur in den unheimlichen Stunden des Früh- und des Spätrots geschehen und erfüllen sich zumeist die Zeichen und Winke. Wer aber fürchtet, die Kraft zu verlieren und nicht harren zu können, bis es wieder tagt, dem ist nun „trost und beispiel” nicht nur das Bild ferner Vergangenheit, sondern das nahe Leben des meisterlichen Dichters, der die Verwesung spürte, die Vernichtung rief und doch den Mut der letzten Hoffnung nie verlor. Und wenn die Wogen „dreisten dünkels“ und schamloser Lüge noch eine Ewe lang alles ehrbewußte und würdevolle Menschentum hinweg zu spülen drohen, so tilgen sie nicht sein Gesicht einer lichteren Zukunft, – wenn so viel Deutsches in Lug und Verbrechen zu versinken scheint und dahinter grausig die geweissagte Sühne von „elend, not und schmach“ ihr Gorgo-Antlitz zeigt, so strahlt seine Vision aus der Zeitenferne nur heller und verpflichtender.

 Als im ersten Weltkrieg das „greulichste gemetzel“ anhob und als der Dichter die furchtbareren Schrecken sah, die der Zusammenbruch der Scheinwelt hydragleich heraufführt, da sang der schon Fünfzigjährige seinen Preis auf „stoff und stamm“, sein jugendliches Loblied auf die ewige Jugend seines Volks, – uns allen Trost und Licht in der Erschütterung der ersten sieg- und gnadelosen Heimkehr.

 Und neuen Trost und neues Licht brachte das stille Lied, mit dem dann später der Sechzigjährige sein dichterisches Werk beginnlich endete, – beschwingte, frühlinghafte Verse, aus denen noch, wenn Einsamkeit und Dunkel und Verzweiflung übermannen und wenn die Finsternis das Werk des Dichters und seiner Getreuen für unmeßbare Zeit in den Abgrund des Schweigens und des Wissens schlingt, späte und späteste Geschlechter Hoffnung und Verheißung schöpfen mögen:

Du bist mein wunsch und mein gedanke
Ich atme dich mit jeder luft
Ich schlürfe dich mit jedem tranke
Ich küsse dich mit jedem duft

Du blühend reis vom edlen stamme
Du wie ein quell geheim und schlicht
Du schlank und rein wie eine flamme
Du wie der morgen zart und licht.