Zur Relevanz der Novissima Sinica
Sollte man ein Ei am stumpfen oder spitzen Ende aufschlagen? Wie Jonathan Swift in Gullivers Reisen darstellt, führte diese Frage in Lilliput zum
Bürgerkrieg und schließlich zur Spaltung des Reiches. Im Afghanistan der Taliban konnte das Schicksal eines Mannes davon abhängen, ob er einen
Bart oder den richtigen Bart trug. Reformbestrebungen in Korea forderten Anfang des 20. Jahrhunderts, daß die Männer sich ihre Haare kurz schneiden
ließen. Als schwerwiegende Verletzung konfuzianischer Traditionen begriffen, führte dies zu bürgerkriegsähnlichen Aufständen.
Es ist stets möglich, eine Kultur von anderen Kulturen zu unterscheiden,
indem man nur hinreichend weit spezifiziert. Ob unterschiedliche Haartracht, unterschiedliche Essgewohnheiten, ob die Art, in der man sich die Nase
putzt oder »den Rotz« hochzieht: die Möglichkeiten, die eigene Tradition gegenüber anderen Traditionen auszuzeichnen, indem man auf an sich
belanglose, höchst spezifische Trivialitäten hinweist und sie zu kulturellen Überlebensfragen, ja zu Heilsfragen stilisiert, sind unerschöpflich. Im Zuge
von Postmodernismus und Kulturalismus lassen selbst »Kulturwissenschaftler« »die Differenz« hochleben. Ja, der Anspruch auf »kulturelle Identität« wird
mitunter gar zu einem Menschenrecht erhoben. Offenbar ist keine Auffassung zu albern, zu abwegig und zu gefährlich, um nicht zum hilflosen
Objekt akademischer Willkür und Verstiegenheit zu werden: vielleicht das Elend der »Geisteswissenschaften« überhaupt.
Zwar scheint das Pendel wieder einmal umzuschlagen. Die von Kofi Annan initiierte Veröffentlichung Brücken in die Zukunft: Ein Manifest für den Dialog der Kulturen (Frankfurt am Main 2001) betont, daß es in erster Linie
auf die Gemeinsamkeiten, und zwar die gemeinsame Ethik aller Kulturen ankomme, wenn weltweit Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit herrschen
sollen. Doch selbst diese Publikation zeigt an einzelnen Stellen noch kulturalistische Züge. Außerdem ist auch sie von der Angst bestimmt, nur
nicht als kulturzentrisch – und insbesondere »eurozentrisch« – gebrandmarkt zu werden. Doch Fragen der Gültigkeit haben nichts mit Alter, Tradition, Herkunft oder gar Geographie zu tun. Ob der Satz des
Pythagoras nun von Pythagoras stammt oder nicht; ob er das erste Mal in der griechischen Antike oder von einem chinesischen Mathematiker
formuliert wurde; ob er 2500 oder 3000 Jahre alt ist: seine Gültigkeit oder Ungültigkeit bleibt davon unberührt. Sitten mögen so altehrwürdig sein, wie
sie wollen: diese Tatsache allein läßt keinen Schluß darauf zu, ob sie (weiter) bestehen sollten. Ich mag 15 Jahre lang Mitglied eines Fußballvereins
gewesen sein. Es könnte sich nichtsdestoweniger als Fehler erweisen. Und jedenfalls darf ich der langen Mitgliedschaft ungeachtet austreten. Ob ein
Pendel umschlägt oder nicht, ist denn auch gar nicht so wichtig. Es kommt darauf an, Mode und akademischem Opportunismus, um nicht zu sagen, einträglichem akademischen Geschäft zu entrinnen.
Wie kaum ein zweiter Philosoph und Wissenschaftler hat sich Leibniz immer
wieder darum bemüht, Gültiges als Gültiges herauszustellen, und da, wo es um Grade ging, das Optimum zu ermitteln. Logiker und Mathematiker, der er
war, wäre er nie auf die absurde Idee gekommen, es gebe spezifisch östliche logische Grundgesetze, die jede Kommunikation zwischen »Ost« und »West« von vornherein zum Scheitern verurteilten – wie es eine
nennenswerte Zahl von Professoren des 20. und 21. Jahrhunderts annimmt. Leibniz sah selbst die Macht Gottes durch allgemeingültige Prinzipien der Logik eingeschränkt.
Die Novissima Sinica, »Das Neueste von China«, sind deshalb nicht nur von historischem Interesse. Sie sind auch nicht nur »aktuell«: willkommene
Medizin gegen kulturalistische Moden. In ihrem methodischen und inhaltlichen Ansatz sind sie vielmehr von zeitloser Relevanz für jede
kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung. Explizit gesagt, liegt diese Relevanz vor allem in folgenden Punkten:
1. Leibniz wirft keine Scheinprobleme auf. Er versteigt sich nicht in absurde
Spitzfindigkeiten über angeblich unüberbrückbare kulturelle Unterschiede – die es ja aus zahlreichen Gründen gar nicht geben kann, wenn wir denn wirklich alle Menschen sind.
2. Er unterscheidet klar zwischen historischen – oder, allgemeiner – deskriptiven Fragen einerseits und Fragen der Gültigkeit – normativen
Problemen andererseits.
3. Leibniz bemüht sich um ein umfassendes und detailliertes Wissen über
China und Chinesisches – über andere Kulturen –, um es als Basis und Material für konsistente und empirisch begründete Spekulationen über eine
gemeinsame kulturelle Zukunft verwenden zu können (und nicht, um es in der Weise bloßer Stoffhuberei zu sammeln).
4. Seine Analysen sind frei von jeder Form kultureller Überheblichkeit.
In der Bedeutung ihres spezifischen Inhalts dürften die Novissima Sinica
freilich oft überschätzt worden sein: vielleicht auch deshalb, weil man sich faktisch eher auf ihre Wirkung als auf den Text selbst bezog. Summa
summarum besagen Leibnizens Ausführungen, daß die – wie er meinte, für die Chinesen bzw. die chinesische Kultur kennzeichnende –
(a) Verachtung menschlicher Aggression,
(b) ihre »Abscheu vor Kriegen«,
(c) ihre »natürliche Theologie«,
(d) die kultivierende und zivilisierende Macht ihrer Konventionen und Sitten und die
(e) Vorbildlichkeit ihrer Herrscher
als Muster bzw. als Instrumente dienen könnten, um einem »ins Unermeßliche wachsenden moralischen Verfall« Europas entgegen zu wirken.
Richtig daran ist und bleibt insbesondere, daß natürliche und rationale
Theologie Menschlichkeit und Frieden eher fördern können als konfessionelle und geoffenbarte Theologie,
daß eine, mit Schiller gesprochen, ästhetische Erziehung, die schöne Sitten zur zweiten Natur werden läßt, Menschlichkeit begünstigt,
und daß die Wirkung der Politik auch von der Glaubwürdigkeit von Regierungen abhängt.
Im Übrigen nimmt Leibniz für die Jesuiten Partei. Er betrachtet den Konfuzius-Kult als rein weltliche Form der Verehrung, und er ist der Meinung, dass christliche Mission sich so weit wie irgend möglich den jeweiligen
Landessitten anpassen sollte.
Es ist zu begrüßen, dass die Novissima Sinica über die Veröffentlichung in den Studien von Zeitfragen endlich einer breiten Öffentlichkeit zugänglich
werden. So bin ich Peter G. Spengler für diese Teil-Publikation des 1979 in Köln erschienenen Ausgabe der Deutschen China-Gesellschaft (DCG) wirklich dankbar.
Prof. Dr. Gregor Paul Präsident der Deutschen China-Gesellschaft
Karlsruhe, den 20. Februar 2002

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