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36. Jahrgang InternetAusgabe 2002
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Poser Bericht

Leibniz-Kongreß

 

Bericht ĂŒber den VII. Internationalen Leibniz Kongreß

Prof. Hans Poser (TU Berlin)

  

 Vom 10. – 15. September 2001 fand an der TU Berlin der VII. Internationale Leibniz-Kongreß statt. Veranstalter waren das Institut fĂŒr Philosophie, Wissenschaftstheorie, Wissenschafts- und Technikgeschichte der TU, die Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft e. V. Hannover und die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Parallel zum Kongreß wurde die von H. Stein (Hannover) konzipierte Ausstellung â€?Leibniz’ Maschinen“ im Lichthof der TU gezeigt. Am Kongreß nahmen ĂŒber 450 Wissenschaftler aus ĂŒber 30 LĂ€ndern teil. Es wurden etwa 250 VortrĂ€ge gehalten, die sich neben zwei Plenarsitzungen und zwei AbendvortrĂ€gen in 57 Sektionen gliederten, – damit die Weite des Leibnizschen Wirkens dokumentierend. Um den Teilnehmern angesichts der FĂŒlle angebotener VortrĂ€ge eine angemessene Vorbereitung zu ermöglichen, war das Programm frĂŒhzeitig im Internet verfĂŒgbar gemacht worden, wobei Links zu Kurzfassungen fĂŒhrten; diese Kurzfassungen wurden ebenso wie die Adressen der Vortragenden im Programmheft (133 S.) abgedruckt. Die Vortragsmanuskripte wurden zum Kongreß in einem dreibĂ€ndigen Kongreßreader (1436 S.) gedruckt; die Plenar- und AbendvortrĂ€ge sowie einige nicht rechtzeitig eingegangene Manuskripte von SektionsvortrĂ€gen sollen in einem Nachtragsband erscheinen, der zur Zeit vorbereitet wird.

 Der Kongreß wurde zugleich in das Programm des Wissenschaftssommer Berlin aufgenommen; wegen der Sektionen â€?Leibniz und China“ wurde er auch in dem Programm der Berliner Asien-Pa=ifik-Wochen angezeigt, die in diesem Jahr China zum Schwerpunkt hatten.

 Die stark besuchte Eröffnungsveranstaltung, zu der – wie zu den AbendvortrĂ€gen – als öffentlicher Veranstaltung eingeladen worden war, wurde vom PrĂ€sidenten der TU Berlin J. Ewers und in Vertretung des Regierenden BĂŒrgermeisters von Berlin, der die Schirmherrschaft ĂŒbernommen hatte, durch die Senatorin fiir Wissenschaft, Forschung und KĂŒnste Frau A. Goehler eröffnet. Der weit ausgreifende Vortrag von J. Mittelstraß (Konstanz) kontrastierte das Leibnizsche WeltverstĂ€ndnis mit anderen Sichtweisen von Galilei bis in die Gegenwart und zeigte dabei die Fruchtbarkeit und den Gegenwartsbezug des Leibnizschen Denkens. D. Garber (Chicago) entwickelte kontrastierend eine philologisch gegrĂŒndete Analyse des Leibnizschen Begriffs der körperlichen Substanz: Mit beiden VortrĂ€gen wurde geradezu die Spannweite des Kongresses in nuce sichtbar.

 Auf gewisse Weise galt dies auch fĂŒr die beiden AbendvortrĂ€ge. Der von A. Robinet (Orchaise/Frankreich) im neuen, vollkommen sanierten Plenarsaal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften entfaltete Weg eines bildreichen rhetorischen Glanzes wurde tags darauf kontrastiert durch R. Adams‘ (Yale/USA) sorgsam-begriffsanalytische differenzierende FortfĂŒhrung seines von ihm in Leibniz. Deist - Theist – ldealist entwickelten Deutungsrahmens

 Die Schrecknisse des 11. September 2001, die am Nachmittag des zweiten Kongreßtages bekannt wurden, fĂŒhrten zu einer Resolution (Anlage), die - von mir entworfen - gemeinsam mit Teilnehmern aus Israel, England, Frankreich und den USA auf Deutsch, Englisch und Französisch ausformuliert und der Presse ĂŒbergeben wurde. Sonst aber galt, was ein israelischer Teilnehmer zum Ausdruck brachte: â€?Es muß weitergearbeitet werden.“ Dennoch ĂŒberschatteten die Ereignisse naturgemĂ€ĂŸ den Tagungsverlauf – Interviews wurden nicht gesendet oder vollkommen abgesagt, geplante Zeitungsberichte blieben aus oder folgten viel spĂ€ter – dann allerdings in großer Breite und auf hohem Niveau, so im Tagesspiegel (Berlin), der Berliner Zeitung, dem Bayernkurier und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, gar im Neuen Deutschland, das den fehlenden Marx-Bezug monierte. Das TagungsbĂŒro mußte fĂŒr Informationen aus den USA, e-mail-Kontakte, Flug-Umbuchungen, HotelverlĂ€ngerungen etc. personell verstĂ€rkt werden. Das alles verdichtete jedoch eher die ArbeitsatmosphĂ€re.

 Zum wissenschaftlichen Ertrag, der sich angesichts der Themenvielfalt nur in großen Linien aufweisen lĂ€ĂŸt, seien folgende Elemente herausgehoben:

 1. Im ganzen 20. Jahrhundert dominierte – auf Couturat, Cassirer und Russell zurĂŒckgehend – eine logikorientierte Leibniz-Interpretation, die an die Stelle der idealistisch-metayphysischen Deutungen des 19. Jahrhunderts trat. Auf dem Kongreß ließ sich in den VortrĂ€gen von D. Garber (Chicago), R. Adams (Yale) und H. Schepers (MĂŒnster) eine neue Deutungslinie ausmachen, die beide Seiten vereint, aber zugleich auf dem Hintergrund des gegenwĂ€rtigen Leib-Seele-Problems mit einer Fokussierung auf Leibnizens Begriff der â€?körperlichen Substanz“ weiterfuhrt. Es geht dabei um ein grundlegend neues VerstĂ€ndnis des VerhĂ€ltnisses vom Ich als Monade einerseits, der Körperlichkeit andererseits: Mit Sicherheit wird dies in den kommenden Jahren zu einem neuen Paradigma der Leibniz-Interpretation fĂŒhren.

 2. In den letzten Jahren war es E. Knobloch gelungen, eine Reihe von Leibniz-Manuskripten als EntwĂŒrfe zur Rentenversicherung zu erkennen und zu veröffentlichen. Leibnizens Ziel war die VergrĂ¶ĂŸerung des gemeinen Wohls durch die Absicherung von existenzbedrohenden SchĂ€den. Hierauf bezogen sich mehrere BeitrĂ€ge (u. a. de Mora, Rohrbasser) sowohl unter mathematikgeschichtlicher wie unter sozialgeschichtlicher Perspektive – hatte doch Leibniz als erster die richtige Rentenformel gefunden und klar die sie beeinflussenden Parameter erkannt. Zugleich wurde am exemplarischen Fall deutlich, daß im Bereich der mathematisch-naturwissenschaftlichen Manuskripte mit neuen Funden gerechnet werden kann, die sicherlich ĂŒber den disziplinimmaneten Wert hinaus von Bedeutung sein dĂŒrften.

 3. Aus den Leibnizschen Vorstellungen zur universellen Harmonie in Yerbindung mit seiner Betonung alles Organismischem – alles ist fĂŒr ihn belebt – wurden Bedingungen ökonomischer und technologischer Vorstellungen entwickelt, die unmittelbar gegenwartsrelevant sind (Pandit, Ross, Ranea).

 4. Hervorgehoben seien die beiden Sektionsgruppen â€?Leibniz und China“ und â€?Leibniz und Europa“. Was hier geographisch umschrieben zu sein scheint, ist jedoch ein systematisches Anliegen – bei China, zwischen dem BinĂ€rzahlensystem und dem I Ging und dem Leibnizschen Harmoniebegriff zu vermitteln, hinsichtlich Europas das Zusammenspiel der politischen, wissenschaftsorganisatorischen, konfessions-ausgleichenden und die verbindende Rechtsgrundlage bestimmenden Elemente herauszuarbeiten: beides keine neuen, aber doch vertiefte Fragestellungen von großer Gegenwartsrelevanz.

 5. Auf â€?Leibniz und die Medizin“, ein bislang stiefmĂŒtterlich behandelter Bereich, wurde intensiv bis hin zur positiven Presseresonanz reagiert; es wurde der Vorschlag gemacht, den geschlossenen und so gut wie unveröffentlichten Bestand an Leibniz-Handschriften zu diesem medizingeschichtlichen Themenkomplex durch eine Publikation zugĂ€nglich zu machen, weil die Leibnizsche Synthese von praktischen Überlegungen zu Reihenuntersuchungen bis hin zu Reformen des Gesundheitswesens, zur Sammlung von Behandlungsmethoden und Heilmitteln ĂŒberall auf der Welt und Leibniz‘ damit verbundene Vorstellungen von einer Verbesserung des menschlichen Daseins von mehr als nur medizin- und aufklĂ€rungsgeschichtlicher Bedeutung sind.

 6. Neben Untersuchungen zur Wirkungsgeschichte des Leibnizschen Denkens traten interphilosophische Vergleiche, etwa zum Buddhismus (Shi, Li, Duan), zum Konfuzianismus (Prasad) und zur japanischen Tradition (Sakai). Diese AnsĂ€tze belegen das Interesse, die Problemoffenheit des Leibnizschen Denkens zu BrĂŒckenschlĂ€gen zwischen den Weltkulturen heranzuziehen.

 7. Auf besonderes interesse stieß der Bericht der Editionsstellen in Hannover (Breger), MĂŒnster (Schneider), Potsdam (Rudolph) und Berlin (Knobloch). Dies betraf insbesondere die neuen Methoden der Erschließung und die Internet-Zugriffsmöglichkeiten auf Datenbanken - insbesondere auf schon bearbeitete Leibniz-Texte - durch Leibnizforscher aus aller Welt. Es wurde der Wunsch zum Ausdruck gebracht und als Bitte an die verantwortliche Kommission der Akademien weitergeleitet, die Editionsstelle insbesondere der Philosophischen Schriften und Briefe (MĂŒnster) wieder auf den frĂŒheren Personalstand zu heben und alle Arbeitsstellen mit EDV-Beratung im notwendigen Umfang auszustatten, damit die Edition in der Akademie-Ausgabe angesichts der neuen Möglichkeiten und der zusĂ€tzlichen Aufgaben schneller voranzuschreiten vermag.

 Diese Punkte könnten mĂŒhelos durch weitere ergĂ€nzt werden, welche die Breite und intensitĂ€t der internationalen L.eibniz-Forschung zeigen. In diesem Zusammenhang wurde die Lebendigkeit der gegenwĂ€rtigen BeschĂ€ftigung mit Leibniz in den USA wie in Italien deutlich sichtbar; daneben stand die Beobachtung, daß sich ein Beginn der Hinwendung zu Leibniz in einer Leibniz-Arbeitsstelle in Wuhan (China) ebenso abzeichnet wie – dank einer ersten arabischen Übersetzung – zumindest in Tunesien.

 So dokumentiert der Kongreß nicht nur den Stand und die Vielfalt der BeschĂ€ftigung mit Leibniz in aller Welt, er ist auch fĂŒr viele Teilnehmer zur Anregung geworden. Es steht deshalb zu erwarten, daß von den bereits vorliegenden drei BĂ€nden und dem noch folgenden ErgĂ€nzunqsband eine weitere nachhaltige Wirkung ausgehen wird.

 * * *

Resolution des Vll. Internationalen Leibniz-Kongresses

Die Teilnehmer des Vll. Internationalen Leibniz-Kongresses sind aus 32 LĂ€ndern von fĂŒnf Kontinenten in Berlin zusammengekommen, um das geistige Erbe des großen Universalgelehrten fĂŒr die Gegenwart fruchtbar zu machen. Sie sind zutiefst betroffen von den erschĂŒtternden terroristischen AnschlĂ€gen in den USA.

Im Geiste von Leibniz wenden wir uns gegen jede Gestalt des Terrorismus, wo immer in der Welt.

Im Geiste von Leibniz mahnen wir, seine fundamentalen Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens zu achten: Neminem laedere! Suum cuique tribuere! Honeste vivere! (Niemandem schaden! Jedem das Seine zugestehen! Ehrenhaft leben!)

Im Geiste von Leibniz fordern wir auf zu Toleranz und Besonnenheit um des Friedens willen - unabhĂ€ngig von allen Sprachen und Nationen, allen Überzeugungen und Religionen: Toleranz besteht in der Kraft und StĂ€rke, andere Auffassungen zu respektieren - nicht aber Intoleranz und Terrorismus zu dulden.

Resolution of the 7th International Leibniz Congress

The participants in the 7th International Leibniz Congress, coming from 32 countries from five continents, meeting in Berlin in order to explore and make fruitful for our time the heritage of the universal thinker Leibniz, are deeply shattered by the terrorist attack on the U.S. today.

In the spirit of Leibniz, we declare our stark opposition to any form of terrorism, wherever it occurs in the world.

In the spirit of Leibniz, we repeat the fundamental principles that enable humans to live together: Harm no one! Render to each his due! Live honorably!

In the spirit of Leibniz we are for tolerance and restraint as requisites for true peace. Regardless of language, nation or religious conviction, tolerance means to have the inner strength to acknowledge the value of others. However, it does not mean accepting intolerance of any sort, and especially not terrorism.

Resolution du 7eme CongrĂšs International Leibniz

Les participants au 7eme CongrĂšes International Leibniz, venus de 32 pays des cinq continents, rĂ©unis Ă  Berlin pour Ă©tudier l’hĂ©ritage de la pensĂ©e universelle de Leibniz, et le faire fructifier pour notre temps, sont profondement bouleversĂ©s par l’attaque terroriste qui a eu lieu contre les Etats Unis.

Dans l’esprit de Leibniz, ils s’opposent a toute forme de terrorisme, en quelque lieu que ce soit.

Dans l’esprit de Leibniz, ils s’engagent a observer les principes fondamentaux de la sociabilitĂ© humaine qu’il a formules: Ne faire de tort a personne, rendre a chacun ce qui lui revient, vivre de maniere juste et honnete.

Dans l’esprit de Leibniz, ils en appellent a la tolerance et a la raison, conditions d`une paix veritable. Au delĂ  des differences de langue, de nationalitĂ©, de conviction, ou de religion, la tolĂ©rance se fonde sur la capacitĂ© Ă i respecter les autres, elle n’admet ni intolĂ©rance ni terrorisme.